Der Lorscher Codex: Das älteste Grundbuch der Region
Quelle: Darmstädter Echo, Verfasser: Michael Horn
REICH VERZIERT ist nur der erste Buchstabe auf der ersten Seite des Lorscher Codex. Danach folgt in schöner karolingischer Minuskelschrift eine Chronik des Klosters. Der kolorierte Kupferstich von Matthäus Merian dem Älteren zeigt die Gebäude der Abtei um 1615.
NAUHEIM hat im Jahre 2001 gefeiert, Messel und Stockstadt waren davor dran, und Bessungen feierte 2002. Ortsjubiläen sind nicht nur in kleinen Gemeinden große Ereignisse, für die lange und viel vorbereitet wird. Festumzüge, Rummelplatz und Feuerwerk ziehen die Besucher an.
Niwenheim. Im Dorf Niwenheim gibt es 1 ganze Hobe, welcher die gleiche Dienstbarkeit obliegt. Sie zinst außerdem 2 Scheffel Winterweizen. Eine andere halbe Hube bezahlt als Zins 10 Pfennig, 1 Scheffel Getreide 1 Huhn und 10 Eier, ferner eine Unze als Geldablösung für den Frondienst der Frauen. Sie ackert 1 Joch Land. Auf der Suche nach dem richtigen Termin zum Feiern greifen Heimatforscher gern auf ein Werk zurück, das den umständlichen Titel „Transscriptio privilegiorum regalium et apostolicorum seu traditionum Laureshamensis monasterii“ trägt, zu deutsch „Abschrift der königlichen und apostolischen Privilegien oder Schenkungen an das Kloster Lorsch“.
Der „Lorscher Codex“ – so die landläufige Bezeichnung – enthält über 3800 Urkunden, die, zum Teil nach geografischen Gesichtspunkten geordnet, einen Überblick über die weit verstreuten Ländereien der alten Benediktinerabtei geben. Von den Alpen bis zur Nordsee reichte der gewaltige Besitz, doch der Schwerpunkt lag am Mittelrhein. Und weil der größte Teil der Urkunden aus dem achten und neunten Jahrhundert stammt – die Zeit Karls des Großen – ist der Lorscher Codex so etwas wie das älteste Grundbuch der Region.
Für gewöhnlich wird die unförmige und etliche Kilogramm schwere Handschrift im Bayerischen Staatsarchiv Würzburg aufbewahrt. Nur Forscher haben Zugang zu den 230 höchst empfindlichen Pergamentblättern. Nun aber ist das kostbare Werk für eine kurze Zeit an seinen Ursprung zurückgekehrt und dort für jedermann zugänglich: Vom 7. August bis 30. September wird die Handschrift im Museumszentrum Lorsch ausgestellt – abgedunkelt und hinter Sicherheitsglas in einer klimatisierten Vitrine.
Die 33,5 mal 46 Zentimeter großen Seiten (mehr als DIN A 3) stecken zwischen kräftigen, mit Leder überzogenen Deckeln aus Buchenholz. Der helle Einband trägt das geprägte Wappen des Prämonstratenserpropstes Eberhard von Wasen, der den Codex zwischen 1478 und 1480 neu binden und vermutlich auch restaurieren ließ.
Prachtvolle Gemälde in Gold und leuchtenden Farben, kunstvolle Verzierungen und kostbare Tinten – nichts von dem, was Laien gerne mit mittelalterlichen Handschriften verbinden, zeichnet den Lorscher Codex aus. Denn das Buch war nicht als Prunkhandschrift gedacht wie beispielsweise der ebenfalls nach Lorsch gehörende „Codex aureus“ oder das berühmte Evangeliar Heinrichs des Löwen, das 1983 bei einer Auktion 32,5 Millionen Mark erbrachte. Seine Entstehung fällt in die letzten Jahrzehnte des 12. Jahrhunderts. In vielen Klöstern war es damals üblich, die verstreuten Schutz- und Besitzurkunden, die die Mönchsgemeinschaft im Laufe ihres Bestehens erhalten hatte, zusammenzufassen.
Mehrere Motive macht Dr. Hermann Schefers, Leiter des Museumszentrums Lorsch, für diese Praxis aus: Zunächst Repräsentationsbedürfnis („Man will zeigen, wer man ist“) – hierfür spricht beim Lorscher Codex die sorgfältige Ausführung und die Qualität des verwendeten Pergaments. Daneben spielte der Wunsch, die Namen aller Wohltäter für die Ewigkeit festzuhalten, eine überragende Rolle. „Ein Kloster ist eine Art organisiertes Gedächtnis“, erklärt Schefers. In Lorsch gedachte man alljährlich am 15. März der Gönner des Klosters – vielleicht lag der Codex an diesem Tag während der Liturgie auf dem Altar.
Als Handbuch für die Güterverwaltung hingegen hat der Band ursprünglich wohl weniger gedient. Dagegen spricht schon sein Format – für die Satteltasche eines reisenden Verwalters hätte sich eine Buchrolle besser geeignet. In ein Besitzverzeichnis hätten die Mönche zudem wohl nur eingetragen, was dem Kloster noch gehörte. Der Lorscher Codex verzeichnet aber auch solche Güter, die die Abtei früh wieder verkauft oder eingetauscht hatte.
Als der Codex entstand, im 12. Jahrhundert, hatte die Abtei in der Rheinebene ihren Zenit schon lange überschritten. Ihre Wurzeln reichen in eine viel frühere Zeit zurück. Im Jahr 764 nämlich hatte der fränkische Adlige Cancor, Graf im oberen Rheingau, beschlossen, mit seiner Mutter Williswinda ein Kloster zu gründen. Solche Stiftungen durch adlige Familien waren nichts Außergewöhnliches: Man wollte damit das Ansehen seiner Sippe mehren, zugleich etwas für sein Seelenheil tun.
Als Ort für die neue Gemeinschaft wählten sie aus ihrem Besitz eine Insel im Flüsschen Weschnitz, auf der vielleicht einst ein römischer Gutshof gestanden hatte. Cancor, der ein entfernter Verwandter des fränkischen Königshauses war, übertrug den Besitz an den ihm ebenfalls verwandten Erzbischof Chrodegang von Metz. Dieser war nicht nur ein bedeutender Kirchenmann, sondern zugleich Kanzler des fränkischen Reiches und einer der engsten Berater des Königs. Chrodegang entsandte Mönche aus Gorze vor den Toren seiner Bischofsstadt nach Lorsch und überließ dem neuen Kloster zugleich kostbare Reliquien, nämlich die Gebeine des römischen Märtyrers Nazarius. Sie stellten fortan den wertvollsten Schatz der Mönche dar – und zugleich die Grundlage ihrer wirtschaftlichen Existenz. Zur gleichen Zeit übertrug der greise Kirchenfürst die Leitung der neuen Mönchsgemeinschaft seinem Bruder Gundeland.
Weil die kleine Anlage dem Ansturm der Pilger, die am Grab des heiligen Nazarius beten wollten, bald nicht mehr gewachsen war, verlegte Gundeland die Abtei auf einen einige hundert Meter entfernten Hügel, den heutigen Standort des Klosters. Außerdem unterstellte er im März 772 das Kloster und all seinen Besitz dem Schutz des fränkischen Königs. Das war kein Geringerer als Karl der Große.
Der geschickte Schachzug begründete den kometenhaften Aufstieg Lorschs. Aus dem unbedeutenden Familienkloster einer fränkischen Adelssippe wurde binnen weniger Jahrzehnte eine der reichsten Mönchsgemeinschaften des Abendlandes. Arme und Reiche, Mächtige und Geringe bedachten das Kloster – mal ein einzelner Acker hier, mal eine ganze Landschaft dort. Über 3800 Schenkungen sind bekannt, fast 70 Prozent fallen in die Jahre zwischen der Gründung 764 und der Kaiserkrönung Karls des Großen im Jahr 800. Der Frankenherrscher, der sich selbst nur einmal, 774, in Lorsch aufhielt, schenkte dem Kloster unter anderem Oppenheim und die Mark Heppenheim, die weite Gebiete des Odenwaldes umfasste.
Karls Nachfolger teilten die Vorliebe des großen Franken für das Kloster an der Bergstraße. Zeitweise wurde die Klosterkirche sogar zu einer Art Familiengrablege – Karls Enkel Ludwig, genannt „der Deutsche“, und andere Familienmitglieder sind dort beigesetzt. Allerdings floss zu dieser Zeit schon der Strom der Gaben nicht mehr so üppig wie noch zu Zeiten des großen Vorfahren. Dennoch wurde auch weiter über jede Schenkung eine Urkunde ausgestellt, die der Schenkende zur Beglaubigung nach dem Gebrauch seiner Zeit mit einem Siegel und einer meist nicht eigenhändigen Unterschrift versehen ließ. Die Urkunden stellten – Bodenkataster waren unbekannt – den einzigen Nachweis über den Grundbesitz des Klosters dar und wurden sorgsam aufbewahrt.
Dieses Archiv diente den Mönchen bei der Abfassung des Codex als Vorlage. Wohl um das Jahr 1170 machten sie sich ans Werk. Oft arbeiteten mehrere Schreiber gleichzeitig an den Seiten: Der Hauptschreiber hatte die verantwortungsvolle Aufgabe, die Urkunden fehlerfrei abzuschreiben. Nicht immer ist das gelungen. Ein zweiter Mönch trug dann mit farbiger Tinte Überschriften und Randbemerkungen ein, so genannte Rubriken.
Auch Herrschermonogramme wie jenes Kaiser Karls des Großen zeichneten sie sorgfältig nach. Der erste Teil des Codex umfasst 34 Pergamentfolien und enthält eine Chronik des Klosters. Sie ist gespickt mit Urkunden von Kaisern und Königen, Päpsten und Bischöfen – angefangen von Pippin, dem Vater Karls des Großen, bis hin zu Papst Alexander III. (1159–1181). Für die Besitzgeschichte des Klosters ungleich interessanter ist der zweite Teil. Dort reiht sich Schenkung an Schenkung: Hofreiten, Äcker, Wiesen, Weingärten, ganze Dörfer mit all ihren Bewohnern – alles im Namen Gottes und für den heiligen Märtyrer Nazarius, „dessen Leib im Oberrheingau im Kloster Lauresham ruht“.
Schon beim Durchblättern wird klar, dass es zwischen Pfälzer Wald, Rhein, Main und Neckar kaum einen Ort gibt, in dem die Lorscher nicht begütert waren: Alsbach, Erzhausen, Seeheim, Messel, Bickenbach, Erfelden, Bensheim, Heppenheim, Eberstadt, Schwanheim, Einhausen, Grasellenbach, Nauheim, Biebesheim, Gernsheim – die Liste lässt sich fast beliebig fortsetzen. Mancherorts waren die Lorscher allein, anderswo mussten sie sich den Besitz mit dem Kloster Fulda, dem Mainzer Erzbischof oder anderen Kirchen teilen.
Die Ländereien des Klosters blieben allerdings nicht auf die nähere Umgebung beschränkt, sondern zogen sich entlang des Rheins nach Norden und Süden. Um Nimwegen und Gent waren die Mönche ebenso begütert wie um Chur, im Elsass und am Oberrhein zwischen Freiburg und Basel. Am Bodensee hatten sie Schenkungen erhalten, des- gleichen auf der Schwäbischen Alb. Eine komplette Bestandsaufnahme des gewaltigen Besitzes gibt es bis heute nicht – erst im Zeitalter des Computers ist Abhilfe in Sicht. Demnächst soll eine CD den Bestand erschließen, mittelfristig kann sich Hermann Schefers eine Datenbank im Internet vorstellen.
Dies wird den Forschern die Arbeit erleichtern. Für sie ist der Codex eine unerschöpfliche Fundgrube. Ohne ihn wäre aber auch schon so manches Dorfjubiläum ausgefallen: Die Erwähnung im Lorscher Codex ist nämlich für die meisten Orte der Region auch der früheste Zeitpunkt, zu dem sie aus dem Dunkel der Geschichte treten.
Das Buch hat die Jahrhunderte überdauert – das Ende der Klostergemeinschaft kam früher: Anfang des 13. Jahrhunderts war die Abtei nur noch ein Schatten ihrer selbst. Misswirtschaft und Unfähigkeit der Äbte hatten den Grundbesitz dahinschmelzen lassen. 1232 schließlich übertrug der Staufer Friedrich II. die Verwaltung des Klosters an den Erzbischof von Mainz. Dieser vertrieb die Mönche aus dem Kloster und siedelte Zisterzienser aus Eberbach im Rheingau an. Doch die Davongejagten gaben nicht auf: Sie sammelten sich auf der Starkenburg und eroberten ihr ehemaliges Kloster zurück. Der Erzbischof musste mehrfach Truppen schicken. Darüber hatten die Zisterzienser das Interesse an Lorsch verloren.
Später zogen Prämonstratenser aus dem Schwarzwald in den leeren Konvent ein und führten Lorsch nochmals zur Blüte. Sie war nur von kurzer Dauer, denn 1461 verpfändete der Mainzer Erzbischof das Kloster für 100000 Gulden an die Kurpfalz. Mitte des 16. Jahrhunderts wurde Lorsch evangelisch – damit kam für das Kloster das endgültige Aus.
Bis in diese Zeit wurde der Codex noch benutzt: Als es 1473 zu einem Grenzstreit im Raum Heppenheim kam, diente als Beweismittel „eyn grosse Bermentbuche mit alter Schrift und off columben geschrieben, darin am ersten Blade nach dem Anfang mit roder Dynt also geschrieben was: De fundacione Laureshamensis monasterii“.
Später interessierten sich Forscher für den Codex: Sie nutzten ihn für historische Abhandlungen und begannen erste Editionen. Auf vielen Seiten der Originalhandschrift haben sie ihre Spuren hinterlassen – die Unart, in Bücher zu schreiben, ist keine Erfindung der Gegenwart. Jahrhunderte, nachdem die fleißigen Mönche mit ihrer Arbeit begonnen hatten, leistete ihr Werk so noch gute Dienste. Ihre Weisheit aber zeigt sich so richtig erst heute. Keine der Urkunden nämlich, die sie einst in mühevoller Arbeit abschrieben, ist im Original erhalten. Keine Urkunde, kein Dorfjubiläum – da weiß man erst, was man den Mönchen schuldet.
Die Karte zeigt Orte in Südhessen, die im Lorscher Codex erwähnt sind.
Für viele Gemeinden ist der Codex die erste urkundliche Erwähnung.
Das Kreuz (+) vor dem Namen bezeichnet Orte, die heute nicht mehr existieren. Der Verlauf des Rheins ist historisch.
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