Ausstellung des Lorscher Codex

Von der Nordsee zu den Alpen

Schon um 800 gehörten zahlreiche Besitzungen in Streulage zu Lorsch; vom König bis zum einfachen Menschen mit wenig Eigentum haben alle gesellschaftliche Schichten zum Wohlstand der Abtei beigetragen, die Besitztümer erstreckten sich schon sehr bald von der heute niederländischen Nordseeküste bis in die Gegend von Basel. Die größte Konzentration Lorscher Besitzungen liegt aber im Rhein-Neckar-Gebiet; und hier gibt es kaum eine Stadt, kaum eine Gemeinde, die sich nicht im Lorscher Codex nachweisen ließe. Meist sind sogar urkundliche Ersterwähnungen zu vermerken - 'allein in diesem Jahr sind es 67 Orte, die vor genau 1200 Jahren im Lorscher Codex erwähnt werden,' kann Dr. Hermann Schefers, der Leiter des Museumszentrums und Organisator der Ausstellung, berichten. 'Wir wissen von vielen in Vorbereitung befindlichen Ortschroniken und Jubiläumsfeiern'.
Der reiche Grundbesitz hat Lorsch in ungewöhnlich kurzer Zeit zu einem der größten Grundbesitzer östlich des Rheins werden lassen. Der Lorscher Codex verzeichnet gleichsam die materielle Basis der Abtei, die in den ersten drei Jahrhunderten ihres Bestehens wie eine kleine Stadt aus dem Boden wuchs, eine der beachtlichsten Bibliotheken Mitteleuropas ihr Eigen nennen konnte und die aus ihrem Wohlstand eine Vielzahl von Leistungen für den König, dem sie unmittelbar unterstand, erbringen konnte.

Ein beachtliches Buch

Fast 460 Seiten in großem Format werden von kräftigen, lederüberzogenen Buchenholzdeckeln zusammengehalten. Und vieles an dieser Handschrift ist bemerkenswert - das riesige Format ebenso wie die sorgfältige Schrift vieler beteiligter Schreiberhände, die schmuckvolle, wenn auch einzige, Initiale auf der ersten Seite ebenso wie der noch aus klösterlicher Zeit stammende originale Bucheinband mit Wappenprägungen des Prämonstratenserpropstes Eberhard von Wasen, der den Codex zwischen 1478 und 1480 neu binden und vermutlich auch restaurieren ließ.
Gleiches widerfuhr damals auch zwei weiteren Büchern, dem weltberühmten 'Lorscher Evangeliar', das 1999 in Lorsch zu sehen war, und dem 'Lorscher Totenbuch', das vermutlich nächstes Jahr im Museumszentrum gezeigt werden kann. 'Damit sind drei Bücher mit großer Bedeutung für das Kloster gemeint; das Evangeliar, wohl ein kaiserliches Geschenk, war nicht nur eine sehr kostbare Handschrift, sondern bereits als Objekt fast so etwas wie eine Reliquie. Das Totenbuch überliefert von den Anfängen des Klosters bis zu seiner Aufhebung Hunderte von Namen Lorscher Mönche und Wohltäter und ist daher die Grundlage des liturgischen Gedächtnisses an die Verstorbenen. Der Lorscher Codex schließlich dokumentiert die ökonomischen Grundlagen. Man kann sagen, daß diese drei Bücher die Eckpfeiler des Selbstver-ständnisses des Lorscher Konvents markieren', so Dr. Hermann Schefers.


Eine kleine Odyssee

Eigentlich ist der Lorscher Codex kein Buch der einstmals so bedeutenden Klosterbibliothek sondern eine Archivalie. Und als solche teilt er auch nicht das Geschick der Lorscher Bibliothek. Man nimmt an, daß nach dem Tod des letzten Prämonstratenserpropstes Jakob Zentner im Jahre 1555 - Lorsch gehörte seit 1461 zur Kurpfalz - alle für die Verwaltung des noch immer nennenswerten Grundbesitzes wichtigen Archivalien nach Heidelberg gebracht wurden. Der sich über längere Zeit hinziehende Prozeß der Auflösung des Klosters wurde damit, wie es scheint, eingeleitet.
Aus Heidelberg, wo die Handschrift unmittelbar anschließend von dem gelehrten Hofhistoriker Friedrichs II., Thomas Leodius benutzt wurde und als Grundlage für das große Geschichtswerk Marquard Frehers diente, kam der Codex Mitte des 17. Jahrhunderts nach Mainz, wo sich bald erneut historisches Interesse regte. Der Seligen-städter Benediktiner Gottfried v. Bessel bekam als späterer Abt von Göttweig die Handschrift ausgeliehen, um für seine Chronik von Göttweig aus ihr schöpfen zu können. Der Plan einer vollständigen Herausgabe aller Urkundentexte blieb aller-dings ein Desiderat. Lange nach v. Bessels Ableben wurde die Handschrift nach Mainz zurückgeholt. Hier nun hatte Andreas Lamey Zugriff auf den Codex, der im Auftrag der unter dem Patronat Carl Theodors stehenden Kurpfälzischen Akademie den Text durch eine auch nach heutigen Gesichtspunkten noch immer brauchbare Edition in drei Bänden erschloß. Der erste Band erschien 1765. Nur wenige Jahr-zehnte später, vermutlich in den Wirren der Französischen Revolution, wurde der Lorscher Codex zusammen mit anderen wertvollen Archivalien nach Aschaffenburg ausgelagert, wo man sie sicher glaubte. Niemand mag geahnt haben, daß wenige Jahre später das Ende des Alten Reiches kommen, Aschaffenburg schließlich dem neuen Königreich Bayern einverleibt werden sollte. Der Lorscher Codex wurde 1835 dem Staatsarchiv Würzburg zugeführt, 1836 dann im Zuge eines zentralisierten Archivsystems in das Hauptstaatsarchiv der Landeshauptstadt München überstellt, von wo aus sie 1993 wieder an das Würzburger Staatsarchiv zurückkam.

Im Interesse der Forschung

Eine neue Ausgabe des Codex erschien bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts als ein wichtiges Anliegen. 1908 setzte sie die eben erst gegründete Historische Kommission für das Großherzogtum Hessen ganz an die Spitze ihrer Agenda. Nach mühsamen Anfängen konnte der in Bensheim wirkende Lehrer Dr. Karl Glöckner die anspruchsvolle Aufgabe übernehmen. Eine immense Arbeit und viele Hindernisse standen bevor: der Erste Weltkrieg (1914-1918), die große Inflation, der Auslandsschuldienst des Bearbeiters. Erst 1929 konnte der erste von drei Bänden erscheinen, herausgegeben von der Historischen Kommission für den Volksstaat Hessen und unterstützt von der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft. Die beiden nächsten Bände folgten 1933 und 1936. Diese Ausgabe ist die bis heute maßgebliche; 1966 erschien in erster Auflage die vollständige Übersetzung des Lorscher Klosterkustos Karl Josef Minst - ein unentbehrliches Arbeitsmittel für den Heimatforscher, der des Lateinischen nicht mächtig ist. Und demnächst soll es auch eine CD-ROM geben, die den riesigen Orts- und Personennamenbestand erschließen wird: seit 2000 ist ein entsprechendes Projekt vereinbart.