Gastwirtschaft "Zum Hirsch", Rathausstraße 11, (heute Heinrich-Kaul-Platz 11)
Das ehemalige Brauhaus mit Wirtschaft am Heinrich-Kaul-Platz 11 (früher: Rathausstraße 11) stammt von 1715 und wurde als Gasthaus "Zum Hirsch" bis in die 1970er Jahre betrieben. Bei der Sanierung 1988/89 wurde die Fachwerkfassade im Obergeschoss freigelegt. Das Erdgeschoss ist massiv gemauert und verputzt. Markantes Fassadenelement des traufständigen Hauses ist der mit Holz verschindelte Giebel. Zum Anwesen gehört die Tordurchfahrt auf der rechten Seite mit Bruchsteinpylonen, Überdachung, großem Holztor samt Handpforte.
In einer Quittung zu der Bürgermeisterrechnung von 1730 ist als erster Gastwirt dieser Hofreite der Bierbrauer und Wirt Johannes Kuhlmann belegt. Um 1750 übernahm der Sohn Johann Christoph Kuhlmann die Gastwirtschaft. Sein Schwiegersohn Johann Jakob Wenz, der die Tochter Maria Kuhlmann heiratete, erbte dann um 1800 das Anwesen und betrieb die Gastwirtschaft bis 1807 weiter. Johann Adam Ackermann heiratete Anna Margaretha Wenz, ebenfalls Tochter von Johann Jakob Wenz, und führte die Gastwirtschaft fort. 1826 kaufte Johann Bernhard Vogel II. Anwesen und Gastwirtschaft und baute auf dem Anwesen einen großen Hinterbau mit Viehstall und Tanzsaal im Obergeschoss. Er betrieb seine Wirtschaft bis 1869. Anschließend übernahm sein Sohn Karl Bernhard Vogel die Wirtschaft. 1903 erwarb der Gastwirt Georg Wedel das Anwesen, veräußerte aber bereits 1910 das Anwesen an den Gastwirt und Käsefabrikanten Heinrich Daum III. Nach dem Tod von Heinrich Daum 1921 führte seine Frau Anna Daum die Wirtschaft bis 1937 weiter. Ihre Kinder Susanne und Peter Daum führten die Wirtschaft gemeinsam bis 1969 weiter. In dieser Zeit war die Gastwirtschaft in Nauheim unter den Namen "s` Sannche" bekannt. 1975 meldete Peter Daum die Gastwirtschaft endgültig ab.
Im Jahr 1958 war es die älteste Gaststätte in Nauheim. Die "Waldlust" und der "Kull Peter" bestanden ebenfalls noch. Die Wirtschaft "Zur Linde", gegenüber dem Alten Rathaus, war schon längst geschlossen. Es war gut, dass im alten Ortsteil so ein traditionsreiches "altes Haus" vorhanden war. In seiner Glanzzeit war der "Hirsch" in der Lage, größere Veranstaltungen und Feiern zu übernehmen.
Die Durchführung des 50jährigen Dienstjubiläums des Bürgermeisters Friedrich Bernhard Benjamin Mischlich am 6. August 1886 mit 150 Gästen war eine respektable gastronomische Leistung in einer so kleinen Gemeinde wie Nauheim. Ein Saal im ersten Stock und eine Kegelbahn ersetzten schon damals das "Dorfgemeinschaftshaus". In seiner Glanzzeit war der "Hirsch" im Ort der Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens.
Peter Bajus (1796 - 1875), der Schnellläufer aus Nauheim, hatte als Lieblingsgaststätte diese Wirtschaft am "Römer", wie man um diese Zeit den heutigen Heinrich-Kaul-Platz nannte. Das Gasthaus, das einst dem Christoph Kuhlmann, bzw. dann dessen Schwiegersohn Johann Jakob Wenz gehörte, hatte später den Namen "Zum Hirsch". Als Peter Bajus seine Besuche machte, waren die Wirtsleute schon tot. Die zehn Wirtskinder führten das Haus und sorgten für ein munteres Leben. Er heiratete die älteste Tochter, die Wirtstochter Elisabeth Margarethe Wenz, am 7.10.1821 in Nauheim. Sie wurde "in der Stille verheiratet". Er zeugte mit ihr 11 Kinder, davon drei vorehelich.
Das Gasthaus "Zum Hirsch" (Ende 60er Jahre)Ab 1909 war das Gasthaus für viele Jahre das Vereinslokal des Gesangvereins "Eintracht" und Gründungsstätte des Kegelvereins "Gut Holz 1928".
Die ledige Tochter des Gastwirtehepaares Daum, "´s Sannche", führte die Gastwirtschaft so gut es ging bis zu ihrem Tode im Jahr 1969 weiter. Von der einst sehr renommierten Gaststätte blieben im Laufe der Zeit der gute Ruf und die Urigkeit erhalten. Es war sehr schwer, nach dem verlorenen 2. Weltkrieg die "Wirtschaft" über Wasser zu halten. Um überleben zu können, musste nach Verdienstmöglichkeiten gesucht werden. Die Nebenstelle der AOK Groß-Gerau war viele Jahre in einem der unteren Räume untergebracht. Der Kegelklub "Gut Holz 1928" hatte über 40 Jahre dort sein Domizil.
Anfang der 50er Jahre bis 1955 wurde im Gastraum Berufschulunterricht für 20 angehende Landwirte durchgeführt. Drei Klassen unterrichtete der Kreisjägermeister Hotz je einen Tag/Woche. Per Fahrrad kamen die Schüler bis aus Ginsheim und blieben bis ca. 15 Uhr.
Eine Anekdote: Der Lehrer Hotz ärgerte sich immer über seine verstaubten Akten, die im verschlossenen Lehrerpult lagerten. Keiner ahnte, wie der Sand auf die Unterlagen gelangte. Eines Tages holte Frl. Daum Salat aus dem Garten, ging durch den Klassenraum und legte die Salatköpfe auf das Pult, wobei die Gartenerde durch die Ritzen auf die Papiere rieselte.
Die aktiven und auch inaktiven Feuerwehrkameraden haben nach den Übungen und Einsätzen oft beim "Sannche" ihren Durst gelöscht. Nach dem Milchabliefern beim "Engels Schorsch" trafen sich die Landwirte in ihrer Stamm-Kneipe zum Dämmerschoppen. Dabei ging es oft sehr lustig zu. Mit der Schließung der traditionsreichen Gaststätte im Jahr 1969 ging die letzte "öffentliche" Begegnungsstätte im alten Ortsteil verloren.
Von den Erben der Familie Daum wurde die Hofreite mit allem Zubehör an die Musikinstrumentenhersteller-Familie Albert Winter, Nauheim, im Jahr 1986 verkauft. Zuvor hatte man schon das Nachbarhaus des ehemaligen Bürgermeisters Heinrich Kaul erworben. Für den Erwerb der beiden Anwesen gab es einen triftigen Grund: Die nach dem zweiten Weltkrieg aus ihrer Heimat Graslitz-Schönbach im Sudetenland vertriebene Familie Jakob Winter wurde von Bürgermeister Heinrich Kaul IV. in sein Haus aufgenommen. In den leerstehenden Räumen "Zum Hirsch" wurde von der Firma Winter mit der Herstellung von Musikinstrumenten und -Etuis neu begonnen. Mit der Errichtung der Produktionsstätten im erschlossenen Baugebiet "Unter der Muschel" wurde der Betriebssitz in die Graslitzer Straße verlegt. Die Beziehungen zur "Neuen Heimat" im alten Nauheim bei der Familie Winter blieben erhalten. Was lag da nicht näher, als die zum Kauf anstehenden Häuser „Heinrich Kaul“ und das "Sannche" zu erwerben. Die zu lösende Aufgabe, beide Häuser zu restaurieren, wurde gut gemeistert.
Das Anwesen in der heutigen Zeit - gekonnt restauriertKurze Beschreibung der heutigen Wohnräume: Von der Eingangsdiele aus gelangt man auf der einen Seite in die Küche mit großzügigem Vorratsraum und auf der anderen Seite in das geräumige Esszimmer. Im hinteren Bereich des Hauses ist ein Duschbad und ein Kinderzimmer untergebracht. Von hier aus kommt man in den herrlichen Wintergarten mit Zugang zum mediterranen Garten. Der Garten wurde liebevoll mit einem Freisitz sowie einem Teich mit Brücke angelegt. Die Treppe im Eingangsbereich führt ins Obergeschoss auf die Galerie, von der aus man einen fantastischen Blick in den Garten hat, da die Verglasung des Wintergarten vom Boden bis an den Giebel reicht. Im Obergeschoss befindet sich ein Gäste-WC sowie das Elternschlafzimmer mit Ankleidezimmer und direktem Zugang zum ca. 20 m² großen Elternbad. Drei Holzsprossenfenster sowie die Raumhöhe, zum Teil bis zum Giebel, sorgen für einen lichtdurchfluteten Charakter. Auf dieser Ebene findet man auch den Wohnbereich mit offenem Kamin. Auch hier reicht die Deckenhöhe bis zum Giebel.
Quelle: Nauheimer Chronik I (gekürzt und ergänzt) — Autor: Harald Hock