Das Schicksal der jüdischen Nauheimer zwischen 1933 und 1945 |
Eine Leseprobe aus der Dokumentation von Karl-Heinz Pilz
Familie Bernhard und Bertha Marx
mit den Kindern Erika und Margot sowie der Mutter von Bernhard, Betty Marx,
wohnhaft in Nauheim, Vorderstraße 30.Bernhard Marx wurde am 8.5.1882 in Nauheim geboren und lebte vom Vieh- und Getreidehandel. Er nahm am Ersten Weltkrieg als Landsturmmann teil und erhielt die Hessische Tapferkeitsmedaille. Seit dieser Zeit litt er unter einer Nervenkrankheit. Er hatte einen Vieh- und Getreidehandel, der aber nicht soviel abwarf, dass die Familie ein sorgenfreies Leben führen konnte. Er war auf die Unterstützung seiner reichen Verwandten in Groß-Gerau angewiesen. Bernhard Marx lebte in dem Haus Vorderstraße 30 mit seiner Frau Bertha, die am 2.7.1889 als Bertha Berney in Obergimbern/Baden geboren wurde. Zur Familie gehörten noch die Töchter Erika, geboren am 12.6.1921 in Nauheim und Margot, geboren am 18.8.1923 auch in Nauheim. Im Haushalt lebte auch noch deren Großmutter Betty, die Mutter von Bernhard Marx. Betty Marx, ist am 25.7.1937 in Nauheim verstorben und auf dem Jüdischen Friedhof in Groß-Gerau beerdigt. Die letzte jüdische Beerdigung auf dem Friedhof in Groß-Gerau fand übrigens am 24.6.1938 statt. Ein Zeitzeuge kann sich noch gut daran erinnern, dass er bei der Familie Marx als "Schabbes-Goi" tätig war. Das waren die Helfer, die in jüdischen Haushalten am Sabbat den Ofen anzündeten und andere Arbeiten verrichteten, die einem gläubigen Juden an diesem Feiertag verboten sind.
Haus Vorderstraße 30 von 1937 Bild: R. KaulWegen Überschuldung wurde das Haus Vorderstraße 30 am 14.6.1937 versteigert und ging an die Bezirkssparkasse Groß-Gerau über. Die Bezirkssparkasse hat dann das Haus an einen Nauheimer Bürger verkauft, dessen Familie am 19.8.1937 dort einzog. Bernhard Marx mit seiner Familie wurde von den Nazis gezwungen, umgehend aus dem Haus auszuziehen. Sie wussten nicht, wo sie hinsollten und standen im Hof während viele Leute vor dem Haus standen und dem Treiben zusahen. Wie Kurt Neumann im Dezember 1988 berichtete, nahm seine Mutter Johanna Neumann ihren ganzen Mut zusammen, ging durch die Menge, nahm die Familie Marx bei der Hand und sagte: "Kommt zu mir". Die Marx´s wohnten dann einige Monate bei Neumanns in der Hintergasse 2, bis die jüdische Gemeinde Mainz ihnen weiterhalf. Bernhard Marx war dann auch eines der Opfer der "Reichskristallnacht" am 10. 11. 193 8 in Nauheim. Er wurde im Nauheimer Gefängnis für eine Nacht eingesperrt und am nächsten Tag ist er nach Groß-Gerau gebracht worden, wo die Behörden alle Juden aus dem Kreis auf dem Marktplatz versammelt hatten. Dort mussten die Juden unter dem Gelächter der Zuschauer Turnübungen durchführen, bevor man sie auf Lastwagen verlud, die sie ins Konzentrationslager Buchenwald brachten. Der Groß-Gerauer Chronist Franz Flach schreibt: " Auf den Gesichtern der umherstehenden Neugierigen erschien ein dümmliches Lächeln, es ist anzunehmen, nicht wegen ihrer Boshaftigkeit, sondern aus ihrer Angst heraus in Bezug auf ihr eigenes Schicksal, ihres kleinen Ichs wegen". Bei ihrem Abtransport nach Buchenwald wurden die Juden gezwungen das Lied "Muss i denn zum Städtele hinaus" zu singen.
Nauheimer Vorderstraße um 1938 Bild im Besitz von K.-H. PilzIm Lager Buchenwald bei Weimar waren zu dieser Zeit 12 000 Menschen unter unerträglichen Lebensbedingungen inhaftiert. Bernhard Marx blieb einige Wochen in Buchenwald, wo die Häftlinge schutzlos den SS-Schergen ausgeliefert waren. An einem Morgen mussten die jüdischen Gefangenen um 4 Uhr antreten und barfuss im Schnee in Reih und Glied stehen. An einem Galgen hing ein jüdischer Mann und den Angetretenen wurde gesagt: "Wenn ihr nicht pariert, passiert euch dasselbe 41. Wer aus dem Lager nach 4 - 6 Wochen zurückkam, versuchte so schnell wie möglich mit seiner Familie auszuwandern. Das amerikanische Konsulat konnte zu diesem Zeitpunkt nur noch auf eine Ausreise in 5 bis 10 Jahren vertrösten, denn das Quotensystem erlaubte nur einer bestimmten Anzahl die Einwanderung in die USA. Einige Zeit später kam auch Bernhard Marx, mit offenen Wunden von Prügeleien, wieder nach Nauheim zurück.
Lagerkommandant in Buchenwald war zu dieser Zeit der in Darmstadt geborene Karl Koch, der später von einem SS-Gericht wegen Mord, Unterschlagung und anderer Delikte zweimal zum Tode verurteilt wurde und 1945 wenige Tage vor der Auflösung des Lagers Buchenwald dort erschossen wurde. Kochs Ehefrau Ilse (man nannte sie die Hexe von Buchenwald), die aus Menschenhaut Lampenschirme machen ließ, endete durch Selbstmord am 2.9.1967 im Gefängnis Aichach.
Die Familie Marx konnte schon aus finanziellen Gründen nicht auswandern und lebte noch einige Zeit bei der Familie Neumann. Dann kümmerte sich die jüdische Gemeinde Mainz um die Familie Marx und brachte sie in der Großen Bleiche 36 in Mainz unter. Am 10.5.1940 berichtete die "Hessische Landeszeitung", dass mit der Familie Bernhard Israel Marx der letzte Jude aus Nauheim verschwunden sei und Nauheim nun "judenfrei" wäre. Bernhard Marx war in Mainz bei der Straßenreinigung beschäftigt und einige Nauheimer können sich auch noch im Jahre 2008 daran erinnern, ihn dort bei dieser Tätigkeit gesehen zu haben.
In der Reichskanzlei in Berlin kam Unruhe auf, die Deportationszüge mit den Juden rollten nicht wie gewünscht. Adolf Hitler war unzufrieden mit dem Fortgang der Aktion "Endlösung der Judenfrage". Hitler ging alles viel zu langsam. Deshalb musste der Chef des Sicherheitshauptamtes, Reinhard Heydrich, am 20. Januar 1942 die " Wannseekonferenz " in die Villa " Minoux ", Am Großen Wannsee 56, in Berlin einberufen. Reinhard Heydrich wurde am 7.3.1904 in Halle geboren. Über die Reichsmarine kam er 1931 zur SS, wo er zum Chef der Sipo und des SD aufstieg und auch an der Formulierung des Euthanasie?Gesetzes und an der" Endlösung des Judenproblems " beteiligt war. Ab 2 7.9.1941 war er zusätzlich Reichsprotektor Böhmen und Mähren. Am 2 7.5.1942 wurde er bei einem Attentat tschechischer Agenten in Prag schwer verwundet, und starb am 4.6.1942 an seiner Verwundung. In der ehemaligen Industriellenvilla in Berlin, erbaut 1915, die von 1941 bis 1945 als Gäste- und Tagungshaus der SS genutzt wurde, besprachen fünfzehn hochrangige Vertreter der SS, der NSDAP und verschiedener Ministerien über eine bessere Kooperation bei der geplanten Deportation und Ermordung der europäischer Juden. SS- Obersturmbannführer Adolf Eichmann fertigte das Protokoll an. Eichmann wurde nach dem Krieg, am 12.5.1945, auf einer Alm im Salzkammergut verhaftet, aber 1946 gelang ihm die Flucht aus US-Haft. Er verdingte sich danach als Holzarbeiter in der Lüneburger Heide und 1950 gelang ihm über Österreich und Italien die Flucht nach Argentinien. Auf Grund eines Hinweises des Frankfurter Generalstaatsanwalts Fritz Bauer wurde Eichmann von israelischen Agenten am 11.5.1960 aufgespürt und nach Israel entführt. Er wurde zum Tode verurteilt und am 1.6.1962 in Tel Aviv hingerichtet.
Am 9. März 1942 wurde über die Familie Marx in Mainz eine Ausgangssperre verhängt. Es betraf Herrn Bernhard Marx, seine Frau Bertha, sowie die Töchter Erika und Margot. Es betraf aber auch noch viele andere Familien in Mainz, Bingen und Worms. Am 10.3.1942 wurden alle Familien von der Gestapo in ihren Wohnungen abgeholt. Wertsachen mussten ausgehändigt und ein Koffer mit Kleidung zu "einfacher Lebensführung" gepackt werden. Vor dem Verlassen der Wohnung war eine Vermögenserklärung genauestens auszufüllen. Mit dem Gepäck und einem nummerierten Pappschild mit dem Namen und Geburtsdatum um den Hals, wurden sie zum zentralen Sammellager zur "Feldbergschule" in der Mainzer Rhein-Allee verbracht. Nach zwei Nächten in der Turnhalle der Schule fuhren Polizeilastwagen die Menschen an den Güterbahnhof an der Mombacher Straße. Von dort ging es weiter nach Darmstadt in das zentrale Sammellager "Justus-Liebig-Oberrealschule", Landwehrstraße, in der Nähe des Darmstädter Güterbahnhofs. Das gleiche Schicksal mussten Mitglieder einer weiteren jüdischen Familie aus Nauheim erleiden, nämlich Hugo und Johanna Neumann.
Groß-Gerau judenfrei!
Als letzter verschwand der dreckige "Schachteljud"Der einzige Hebräer, der sich noch in der Kreisstadt herumtrieb, der Jude Strauss, allgemein unter dem Namen "Schachteljud" bekannt, ist nun endlich weggezogen. Dieser lästige Jude hat bis zuletzt versucht, bei den Volksgenossen seinen stets in einer Schachtel mitgeführten Dreck loszuwerden. Nun ist er nach Frankfurt "ausgewandert". Damit ist Groß-Gerau judenfrei. Die Stadt hat vor der Machtübernahme durch den Führer über 140 Juden beherbergt. Die Juden besaßen bereits im 13. Jahrhundert in Groß-Gerau einen Friedhof zwischen dem Galgenberg und dem Stadttor in der Nähe der heutigen Hassia-Käserei Petermann in der Helwigstraße. Sie mussten damals für jeden Rassegenossen, den sie dort begruben, einen Goldgulden an den Zentgrafen bezahlen. Nach der Französischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts, die einen Sieg der Juden über die arische Bevölkerung darstellte, trat das Unglück ein, das unsere Vorfahren verhütet hatten. Groß-Gerau darf sich glücklich preisen, den letzten Juden losgeworden zu sein. Es ist interessant, festzustellen, dass sich im gesamten Kreisgebiet noch rund 120 Zionsverteidiger aufhalten. Aber auch diese letzten Reste werden bald der Vergangenheit angehören.
Auszug aus der "Hessischen Landeszeitung" vom 29. Juni 1939.
Die 50seitige reichhaltig bebilderte Broschüre ist im Nauheimer Bürgerbüro, Weingartenstraße 46-50, 64569 Nauheim, Tel. 06152 639 262 - 4, für 4,50 Euro erhältlich.