Erkenntnisstand: 8/2004
Im Jahre 1588 bestand Nauheim nur aus der Vorderstraße mit drei Seitengäßchen: die "Schustereck" und "Hollereck" kennen wir noch, die Verlängerung der Hollereck über die Vorderstraße hinaus bis zur Hintergasse und weiter bis zur Dorfkirche, gibt es nicht mehr. An diesen "Gemeinen Gassen", so die Benennung damals, lagen etwa 20 heute nachweisbare Hofreiten. Auf den Hofreiten gab es wohl stets eine Scheune und ein oder auch mehrere einfache Stallgebäude. Die westlichen Grundstücke der Vorderstraße reichten mit ihren Hausgärten noch bis zur heutigen Hintergasse, die nur ein Fußweg zu den längs der Schwarzbach liegenden Grabgärten war. Auch die Pfarrgasse war ein solcher Weg entlang der nordöstlichsten Vorderstraßen-Hofreite und den nördlich davon liegenden Gartengrundstücken. Der Bereich des heutigen Heinrich-Kaul-Platzes war Weide mit Weed - Dorfteich, Löschteich, Viehtränke - und dem Dorfbrunnen nahe der Vorderstraße. Umfasst wurde das Bauerndorf von dem "Etterzaun", einem Flechtwerkzaun, mit den beiden Dorftoren an den beiden Enden der Vorderstraße und dem Dorfgraben bzw. der Schwarzbach. Dorfkirche und Friedhof lagen in Richtung Trebur auf den sogenannten Kirchhügel. Die Mühle und eine Kirche im Ort gab es noch nicht. Einschließlich der Witwen bildeten 42 "Gemeinsleute" 1588 die "Gemeinde" von Nauheim. Zusammen mit ihren Familienangehörigen und den in den Hofreiten mitwohnenden Mägden, Knechten usw. hatte das Dorf wohl um die 200 Bewohner. Herr und Besitzer des Dorfes waren die Grafen von Isenburg-Büdingen, die absolute Gewalt über Gemarkung, Dorf und Bewohner ausübten.
Es war wohl recht zeitig im Frühjahr 1588, als an die aus den 42 Gemeinsleuten gewählten zwei Bürgermeister die Anweisung der Herrschaft kam: "Baut ein Rathaus!" Die Begeisterung kann nicht groß gewesen sein in Nauheim! Man hatte doch in der Hofreit 19 in der Vorderstraße das Spielhaus! Warum dann ein modisch-neues "Rathaus" bauen, das doch auch keinen anderen Verwendungszweck hatte? Denn Baubefehl bedeutete auch, daß alle anfallenden Kosten von der Gemeinde zu begleichen seien. Die "Gemeinde" aber waren die ca. 42 Gemeinsleute mit ihren privaten Geldbeuteln! Heute sog. "Öffentliche Zuschüsse" von seiten der Herrschaft gab es allenfalls in Form von Naturalien, in diesem Falle als selbst einzuschlagendes Bauholz aus dem herrschaftlichen Wald. Ob die "Landeskinder" Geld hatten oder es sich erst selbst leihen mußten, änderte an der Bauanweisung nichts! Dabei muß man wissen, daß aus den wenigen erhaltenen Archivalien hervorgeht, daß 32 der 42 Gemeinsleute Darlehen von der Nauheimer Kirchenkasse hatten, also verschuldet waren.
Da Pfarrer und Schultheiß als Untergebene des Isenburger Grafen nicht schreiben durften und eine Schule in Nauheim noch nicht existierte, ließen sich die Nauheimer vom Königstädter Schulmeister ein Petition verfassen "der Graf möge ihnen doch den Bau des Rathauses erlassen" und schickten einen Boten damit nach Wächtersbach ins Schloß. Die Bittschrift wurde abgelehnt, das Rathaus mußte gebaut werden. Noch 1588 wurde der Zimmermeister Barthel Hilbert als Baumeister bestimmt, der den Bauplan anfertigte und vom Amtmann genehmigen ließ. Auch den Bauplatz besichtigte der Amtmann aus Langen und genehmigte ihn. Der Bauplatz war nur ein kleines Grundstück am westlichen Ende der Hofreit, auf der heute die Ev. Kirche, das Anwesen Graf und das Historische Rathaus stehen. Das kleine Baugrundstück muß schon vor 1500 von der Hofreit abgeteilt worden sein, war Gemeindebesitz und wohl mit dem Gemeindlichen Hirtenhaus bebaut gewesen. Denn zwischen den Baukosten für das Rathaus gibt eine Einnahme von 3 Gulden "auß dem alten baw und geholtz gelößt. So uf dem blatz gestanden, do das Radthauß ist ufgeschlagen worden". Das kann nicht mehr viel gewesen sein, wo doch der Amtmann bei der Platzbesichtigung mehr an Verzehrkosten erstattet bekam! Da der Platz so klein war, nahm man einfach ein Stück der davor liegenden Fläche mit in Anspruch und der damalige Inhaber der anliegenden Hofreite, Andreas Dreyeicher, mußte seine Scheune auf Gemeindekosten ein wenig kürzen lassen. So entstand der auf den Katasterplänen noch gut zu erkennende Rathausbauplatz, der nicht wie das Historische Rathaus heute zur Kreuzung Heinrich-Kaul-IV-Platz / Schulstraße gerichtet ist, sondern auf den damaligen Ortseingang, die Pforte am Ende der Vorderstraße. Wer durch die Pforte kam, blickte frontal auf die schmucke Giebelseite des auf einem Eckplatz stehenden Rathauses, denn nebenbei war so die Hintergasse begründet worden.
Standort des ersten Nauheimer RathausesWie sah das Rathaus aus? Die Bürgermeisterrechnungen zählen alle Ausgaben usw. für den Neubau auf, berichten aber nur ganz wenig und nur zufällig über das Aussehen.
Rekonstruktion des Nauheimer Rathauses von 1588-1594
Die Größe kann man nur der Gemeindegröße entsprechend schätzen: etwas größer als Berkach, etwas kleiner als Groß-Gerau; in den Bauproportionen ähnlich dem Berkacher Rathaus (erbaut 1587). So wurde mit Frau Dr. Spilles Hilfe und Zustimmung zum Aussehen des Nauheimer Rathauses von 1588 folgendes Bild entworfen, das Richard Kellner auch als Zeichnung zu Papier gebracht hat:
Das Rathaus stand mit der Frontseite zur Pforte, mit der Längsseite zur späteren Hintergasse und war ohne Keller. Fundamente und Erdgeschoß waren aus Niersteiner Steinen ("eine Schiffsladung") gemauert. Das Erdgeschoß war völlig leer, mit Sandsteinplatten gepflaster und sehr offen. Giebelseitig gab es zwei Rundbogen. Die Anzahl der seitlichen ist nicht festlegbar.
Innenansicht des Erdgeschosses mit Blick nach Norden.
Der Raum wurde für Übernachtungen von Durchreisenden genutzt.
Erster Stock und der Dachgiebel (aufgeschlagen 1589) waren offen sichtbares Fachwerk. Das Dach selbst war mit Schiefer gedeckt und wurde von einem kleinen Türmchen mit den zwei aus der Jakobskapelle ins Dorf geholten Kirchenglocken gekrönt. Auf den beiden Giebelspitzen steckten "Blechknöpf" und auf dem Türmchen eine "Wetterfahn". Im ersten Stock waren zwei Räume. Die "Große Stube" nach vorn und die "Kleine Stube" nach hinten. Eine einfache und völlig offene Holztreppe führte an der Längsseite (Hintergasse) in den ersten Stock zu einer kleinen Diele, mit den Türen zu den beiden Stuben und zur Speicherstiege. Der Speicher selbst war leer, in späteren Jahren wurde er als Lagerraum gelegentlich genannt. Die Stuben waren nur mit einigen hölzernen Tischen und Bänken, sowie jeweils mit einem eisernen Ofen ausgestattet. Für die Öfen gab es einen zweizügigen Schornstein im Rathaus, der im ersten Stockwerk begann. Die Wände der Stuben waren wohl verputzt, weiß gestrichen und vielleicht auch, der Mode der Zeit folgend, bunt bemalt. Fußboden und Decke waren aus Fichten oder Tannenholz ("Floßholz"). Die Fenster hatten Glasscheiben und die frontseitigen Fenster der Großen Stube waren wohl als sog. Fränkischer Erker ausgebildet. Außen war das Rathaus im Erdgeschoß weiß verputzt, die Gefache des Fachwerkbaues ebenfalls, das Gebälk aber dem Zeitgeist nach vermutlich farbig angelegt und mit Verzierungen bemalt. Bei den Baukosten wurden an Farben namentlich aufgeführt: weiß, schwarz, steinrot, rot, grün und Grünspan.Recherche: Harald Hock, Richard Kaul, Erwin Kaul - Nauheim
Zeichnungen: Richard Kellner, Nauheim