Das Schicksal der jüdischen  Nauheimer zwischen 1933 und 1945

 

Eine Leseprobe aus der Dokumentation von Karl-Heinz Pilz

 

Familie Siegfried und Sophie Marx
mit den Kindern Herbert-Leopold, Ella-Rosi und Otto, wohnhaft in Nauheim, Waldstraße 10.

Das Familienoberhaupt Siegfried Marx wurde am 18. Februar 1884 in Nauheim geboren. Herr Marx war Kaufmann in Textilien. Er war im 1. Weltkrieg als Gefreiter in einem deutschen Infanterieregiment und kam im Oktober 1918 in englische Gefangenschaft, aus der er 1920 entlassen wurde. Siegfried Marx hatte in Nauheim einen guten Leumund. Er führte in Nauheim ein gut gehendes Manufaktur-, Weiß- und Wollwarengeschäft, das auch für die damalige Zeit modern eingerichtet war. Da Frau Marx ganztägig im Geschäft war, musste man ein Dienstmädchen anstellen. Später konnte man im Geschäft auch Schuhwaren kaufen. Die Firma Marx bezog ihre Waren von renommierten Vorlieferanten wie Aumann & Rapp aus Frankfurt, Nathan & Stern aus Mainz und Deutsch & Co. ebenfalls aus Mainz. Die Schuhwaren erhielt man von der Firma Marx aus Aschaffenburg. Siegfried Marx belieferte mit seinem Motorrad auch Kunden in der Umgebung. Im Festbuch zum 60. Jubiläum des Gesangverein "Eintracht" im Jahre 1928 ist eine große Anzeige von Siegfried Marx zu sehen, da er (seit 1909), ebenso wie sein Sohn Herbert‑Leopold (seit September 1928) und Tochter Ella-Rosi, Mitglied im Gesangverein "Eintracht" Nauheim war. Bei diesem Jubiläum des Vereins 1928 gehörte Siegfried Marx nicht nur dem geschäftsführenden Ausschuss an, sondern er stand u. a. auch beim Finanz-, Musik- und Zugausschuss in Verantwortung. Am 30.1.1932 war er noch Rechnungsprüfer. Siegfried Marx war auch Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr Nauheim und war dort bei der Ausrichtung des Kreisfeuerwehrtages 1931 in Nauheim im Vergnügungsausschuss tätig. Von Kind an war Siegfried Marx auch im Nauheimer Turnverein, für den er auch einige Siege errang.

Groß war das Erstaunen in Nauheim, als bekannt wurde, dass Siegfried Marx versucht habe, am 6. Mai 1933 auf dem Hauptfriedhof in Frankfurt, Eckenheimer Landstraße, Selbstmord zu begehen. Er starb an einem Gehirnsteckschuss um 14.25 Uhr auf dem Transport vom Hauptfriedhof zum Frankfurter BürgerHospital. Er wurde am 9. Mai 1933 auf dem Jüdischen Friedhof in Frankfurt, Eckenheimer Landstraße, beerdigt (Grab 1 D 71).

Obwohl der Suizid im Judentum strengstens verboten ist war er in dieser Ausnahmesituation erlaubt. Es begingen allein in Frankfurt, laut Aussage des Frankfurter Friedhofsverwalters, in den Jahren nach dem Novemberpogrom 1938 siebenhundert Frankfurter Juden Selbstmord. Ein letzter verzweifelter Akt des Widerstandes und die einzige Möglichkeit für viele, sich der Deportation zu entziehen.

Der Tod von Siegfried Marx gab in Nauheim einige Rätsel auf. Vielleicht hatte er noch einmal seinen Sohn Herbert-Leopold besucht, der bereits am 5. November 1929 nach Frankfurt, Hardenbergstr. 9, verzogen war. Sie werden sicher die negative Entwicklung des Lebens der Juden besprochen haben, denn es hatte sich seit Januar 1933 einiges ereignet, das Schlimmes ahnen ließ. Am 27.2.1933 ging das Reichstagsgebäude in Berlin in Flammen auf. Eine neue Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat wurde daraufhin am 28.2.33 erlassen, die viele demokratische Grundrechte außer Kraft setzte. Im Zuge dieser Anordnungen mussten alle jüdischen Mitglieder die deutschen Turnvereine bis zum Deutschen Turnfest am 21.7.33 in Stuttgart verlassen haben. Man wird Siegfried Marx auch nahe gelegt haben, beim Turnverein und bei der Freiwilligen Feuerwehr Nauheim auszutreten. Genau so war es sicher im Gesangverein "Eintracht", wo er zum 65. Jubiläum am 2.4.1933 in keinem Ausschuss mehr zu finden war. Am 20.3.1933 war die Eröffnung des ersten Konzentrationslagers in Dachau bei München und am 23.3.33 nahm der Reichstag, gegen die Stimmen der SPD, das Ermächtigungsgesetz an, nach dem Adolf Hitler schalten und walten konnte wie er wollte. Am 28.3.1933 rief die NSDAP für den 1. April 1933 zum Boykott gegen jüdische Geschäfte auf und am 26.4.1933 wurde die Gestapo gegründet. Am 1.5.1933 war halb Nauheim auf den Beinen. Um 6 Uhr wurden alle durch Böllerschüsse geweckt. Um 14 Uhr war die Aufstellung des Festzuges am Bahnhofsgelände. Vorneweg Stahlhelm, SA, BDM und Hitlerjugend. Danach Musikanten, Schüler, Feuerwehr, Opelbelegschaft, Eisenbahner und Vereine. Der Zug bewegte sich durch die Ortsstraßen zum Turnplatz in der Bleichstraße, wo eine nationale Kundgebung stattfand. Gegen 18 Uhr zogen die Leute zum heutigen Friedrich‑Ebert‑Platz, der bei dieser Gelegenheit zum "Adolf‑Hitler‑Platz" geweiht wurde. Der 2. Mai 1933 brachte dann die Zerschlagung der freien Gewerkschaften in Deutschland.

Durch all diese Ereignisse setzte auch die Verarmung der Juden ein. Zehntausende wurden aus ihren Berufen gedrängt und zahlreiche selbstständige Existenzen sind vernichtet worden. Die Not der fristlos entlassenen jüdischen Angestellten und Arbeiter wurde ungeheuer groß. Ersparnisse hat nun keiner mehr machen können, weil in jeder Familie Arbeitslose zu unterhalten wa­ren. Auffallend ist die hohe Zahl der arbeitslosen jüdischen Selbstständigen. Viele der im Bereich Industrie und Handwerk infolge der wirtschaftlichen Notzeit nach dem Ersten Weltkrieg in den Ruin geratenen Handwerker und Geschäftsleute mussten ihre Betriebe schließen. Bereits vor Machtantritt der Nazis war eine deutliche wirtschaftliche und soziale Verschlechterung der Lage vieler Juden beklagt worden. Sie konnten in vielen Fäl­len nicht mehr rechtzeitig ihre Bankschulden zurückzahlen, da der Druck der Geldinstitute auf die Juden immer größer wurde. In einer eidesstatt­lichen Erklärung vom 26.4.1962 hat ein Herr Mayer, der früher in Groß‑Gerau, dann 1962 in New York/USA lebte und der das Ehepaar Siegfried Marx sehr gut kannte, angegeben, dass Siegfried Marx unter der Missachtung seiner Mitbürger sehr litt.

Seine Familie war seit 300 Jahren in Nauheim und nun musste er am Ortseingang von Nauheim Schilder lesen wie Juden unerwünscht", von seinen Mitbürgern wurde er angepöbelt und aus seinen geliebten Vereinen wurde er ausgestoßen. Das 65. Jubiläum des Gesangverein "Eintracht" am 2.4.1933 musste Siegfried Marx nun als "Ausgestoßener" erleben. Hat Siegfried Marx, als einer der Ersten, den Weg des jüdischen Volkes in Deutschland vorausgesehen? Laut Herrn Mayer, Groß‑Gerau, war Siegfried Marx so deprimiert, dass er die Nerven verlor und Selbstmord durch Erschießen beging. Dies war eine direkte Folge des Naziregimes, wie er in einem zurückgelassenen Brief bestätigte. Siegfried Marx war das erste jüdische Opfer in Nauheim.

Der Selbstmord von Siegfried Marx konnte natürlich in einem 1600‑Seelen‑Dorf wie Nauheim nicht verborgen bleiben und gab zu vielen Spekulationen und Diskussionen Anlass. Schon am Tag nach seinem Freitod, am Sonntag, dem 7.5.1933, schlugen in der Gaststätte "Zum Hessischen Hof" in Nauheim die Wellen hoch und der Fußballabteilungsleiter der Arbeiter‑, Sport- und Sängervereinigung und Gastwirt Ludwig Geyer ließ sich mit einem weiteren Nauheimer, dem Händler Rudolf Burg, dazu hinreißen, die "Hitler‑Partei" zu beschimpfen. Ein ebenfalls anwesender NSDAP‑Mann hat beide denunziert und bereits vier Tage später, am 11.5.1933, einem Donnerstag, befanden sie sich im Konzentrationslager Osthofen bei Worms.

Die Ehefrau von Siegfried Marx, Sophie Marx, geb. Stern, wurde am 17.12.1882 in Ernsbach geboren. Dort, heute Stadt Forchtenberg, Hohenlohekreis, Baden‑Württemberg, hatte sie am 25.11.1909 den Nauheimer Siegfried Marx geheiratet. Wie es damals üblich war, lernten sich die beiden durch einen "Schadchan" (einen wandernden Vermittler) kennen. Das klingt nicht romantisch, doch in den meisten Fällen verstand man sich nach einiger Zeit gut. Nach dem Selbstmord ihres Mannes führte sie das Geschäft in Nauheim allein weiter, wie sie es schon während des 1. Weltkrieges getan hatte. Es ging der Familie Marx jedoch wirtschaftlich sehr schlecht und es soll nicht verschwiegen werden, dass die Nachbarfamilien Schad, Bolbach und Geyer sie nach Möglichkeit unterstützten, obwohl dies von den Nazi‑Behörden strengstens verboten war. Auch andere Nauheimer werden sicher den in Not ge­ratenen Juden beigestanden haben, aber das durfte der Obrigkeit des Ortes nicht bekannt werden und so sind nur wenige Namen von Helfenden überliefert. Das Haus Waldstr. 10 wurde 1936 versteigert.

Frau Sophie Marx zog deshalb mit ihrem Sohn Otto, geh. am 4.2.1923 in Nauheim, nach Mainz, Rheinallee 24. Ihre Tochter Ella‑Rosi, geb. am 18.9.1912 in Nauheim, verzog aus beruflichen Gründen schon am 24.10.1929 nach Ziegenhain/Kassel. Im Jahre 1937 zog Sophie Marx mit ihrem Sohn Otto zu ihrem ältesten Sohn Herbert‑Leo­pold, geh. am 21.4.1911 in Nauheim. Dieser war inzwischen von Frankfurt nach Breslau verzogen und wohnte dort in der Viktoriastr. 167. Sophie Marx ist von dort am 13.4.1942 zusammen mit Juden aus Berlin, insgesamt 1200 Menschen mit dem Zug Nr. 584 in das Ghetto nach Izbica/ Ostpolen verschleppt worden.

Welchen dieser Züge die Nauheimerin Sophie Marx besteigen musste oder ob sie zu den Tausenden gehörte, die auf dem Friedhof in Izbica erschossen wurden oder einer Krankheit zum Opfer fiel, ist nicht bekannt. Es könnte sein, dass die 60 jährige Sophie Marx im Todes‑Transport vom 8. Juni 1942 nach Belzec war. Offiziell sollten sich an diesem Tag alle Personen im Alter von unter 15 und über 55 auf dem Marktplatz von Izbica einfinden. Mit diesem Transport wurden vor allem ausländische Juden, nicht arbeitende ältere Personen und Kinder in das Vernichtungslager Belzec gebracht. Wir können uns heute nicht vorstellen, dass in diesem verhältnismäßig kleinen Lager vom März 1942 bis März 1943  600.000 Menschen in den Gaskammern ermordet wurden, aber es lässt sich belegen. Die Leichen der Getöteten wurden zunächst in Massengräbern verscharrt. Ab November 1942 begann ein jüdisches Sonderkommando die Leichen auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Am 23.7.1942 wurde auf Veranlassung von Himmler festgelegt, dass die Umsiedlung der gesamten jü­dischen Bevölkerung des Generalgouvernements bis zum 31.12.1942 durchgeführt und abgeschlossen ist. Im März 1943 wurde Belzec aufgelöst und zerstört. Das Gelände ließ man umpflügen, bepflanzen und darauf einen Bauernhof errichten. Die Flucht aus Belzec gelang nur sieben Perso­nen. Am 8.5.1945 ließ man Sophie Marx offiziell für tot erklären.

Sophies Sohn, Herbert‑Leopold Marx, hat nach dem Krieg, am 8.10.1946, aus Chulumani, Departamento La Paz, Bolivien, bei "Yad Vashern" der jüdischen Gedenkstätte für Holocaust und Heldentum (Berg des Geden­kens) in Jerusalem nachgefragt, was aus seiner Mutter Sophie geworden sei und die Antwort erhalten, dass die Mutter in Auschwitz verschollen, aber das Todesdatum nicht bekannt sei. Diese Aussage ist nachweislich nicht richtig gewesen.

Herbert‑Leopold Marx soll zwischen 1964 und 1967 in Bolivien verstorben sein, denn seine Frau Lisbeth Pauline Marx und die minderjährigen Kinder Irene und Monika Marx beantragten am 26.12.1967 eine Entschädigung.

Den anderen Kinder von Siegfried und Sophie Marx, der Tochter Ella‑Rosi und ihrem Bruder Otto, gelang über Spanien die Flucht nach USA, wo sie in 602 West 188 Street, New York 40/USA, noch 1964 lebten. Nach den vorliegenden Informationen soll Ella-Rosis letzter Aufenthalt 1989 in Florida/USA gewesen sein.

Der Holocaust forderte weitere Opfer aus der Waldstr. 10. Der Vater von Siegfried Marx, Leopold Marx (12.11.1846‑ 8.1.1909), dem das Haus Waldstr. 10 seit 1874 gehörte, hatte in erster Ehe Mathilde Haas, geboren am 9.9.1875 in Nauheim, geheiratet. Nach der Trennung zog sie nach Lorsch, Karlstr. 1, und wurde von dort nach Darmstadt verbracht und unter der Nr. 1264 mit dem Alters‑Deportationszug "Da 520“ am 27.9.1942 nach dem Ghetto Theresienstadt zwangsverschickt, wo sie auch verstorben sein soll. Die Alten und Versehrten, Kriegsteilnehmer und ihre Familien wur­den in die nordwestlich von Prag gelegene ehemalige Garnisonsstadt Theresienstadt gebracht, die als Altersghetto und als privilegiertes Lager ausgewiesen war. Theresienstadt, wo früher 7 000 Menschen gelebt hatten, war im Sommer 1942 auf 21000 Zwangsbewohner angewachsen. Die Neuankömmlinge wurden auf bis dahin als unbewohnbar geltenden Dachböden notdürftig untergebracht, die gehunfähige kranke Menschen nicht verlassen konnten. Sanitäre Anlagen fehlten, die hygienischen Verhältnisse waren unzureichend, die Versorgung mit Essen bereitete große Probleme, Krankheiten grassierten und Läuse waren die Plage. Hier starben in den Wochen bis zum Jahresende 1942 mehr als 1500 alte Menschen aus Hessen, das sind mehr als ein Viertel der dorthin deportierten. Das Lager diente vor allem als Durchgangslager in die Vernichtungsstätten in Osteuropa.

Die zweite Ehefrau von Leopold Marx, Rosette, geb. Grünewald, geboren am 2.7.1860, starb bereits am 5.12.1919 in Nauheim.

Der Bruder von Siegfried Marx, Max Marx, geboren am 2.2.1882 in Nauheim, Waldstr. 10, zog wahrscheinlich schon vor 1920 nach Frankfurt, Bleichstr. 13 a. Max Marx war Kriegsteilnehmer im 1. Weltkrieg und an den Kriegsschauplätzen Belgien, Frankreich, Russland und Serbien eingesetzt. Er war mehrfach verwundet und wurde mit der Hessischen Tapferkeitsmedaille, dem EK 11. Klasse, dem Hessischen Ehrenzeichen und dem Verwundetenabzeichen ausgezeichnet. Von Beruf war er Kaufmann. Er heiratete 1922 Elsa Marx, geb. Haymann, geboren am 16.12.1894 in Saarburg/ Kreis Trier. Sie hatten eine Tochter Lieselotte, gebo­ren 6.5.1923 in Frankfurt. Die Familie zog dann um in die Oberlindau 84 und dort wurde am 17.4.1926 die zweite Tochter Edith geboren. Am 19.3.1941 zogen sie erneut um, in die Frankfurter Böhmerstr. 13. Am frühen Morgen des 8. Mai 1942 wurden die drei Frauen von Frankfurt, mit dem Zug Nr. Da 33 (938 Personen) nach Izbica/Polen deportiert. Es war der vierte Transport mit Juden, der von Frankfurt abging. Max Marx gelang die Flucht nach Paris und von dort 16.11.1950 nach Saarbrücken, wo er in der Blumenstraße 40 wohnte und am 1.9.1954 in die Johannisstraße zog. Die letzten Jahre war Max Marx von schwerer Krankheit gezeichnet. Er starb am 8.3.1957 in Saarbrücken. Das Schicksal seiner Frau und seiner Töchter ist unklar, da keine Deportationslisten erhalten sind. Die Transportinsassen von Zug Nr. Da 33 wurden in Lublin auf einem Nebengleis "selektiert". Etwa 150 Männer wurden in das Lager Majdanek eingewiesen. Die restlichen Personen kamen in das Durchgangsghetto Izbica, von wo sie später nach Belzec oder Sobibor verbracht wurden und in den Gaskammern starben, sofern sie nicht schon den entsetzlichen Lebensbedingungen in Izbica zum Opfer gefallen waren. Die genauen Todesdaten von Frau Elsa Marx und ihren Töchtern sind nicht bekannt.



Heimat- und Museumsverein Nauheim          Der 9. November in der Deutschen Geschichte