Geschichte der Hofreite 37
in der Hintergasse 21


Die Hofreite 37, heute Hintergasse 21, hat ihre Hofreit-Nummer nach dem 1. Januar 1781 erhalten. Diese im "Dorfbuch aller Gebäude und Hofreiten von Nauheim" erstmals vom großherzoglichen Steuereinschätzer Johann Jacob Ludwig Steiner festgehaltene Nummerierung wurde übernommen und festgehalten. Es war übrigens die erste vollständige Auflistung der Nauheimer Hofreiten und Gebäude.

Für Haus 37 ist als erste Nennung im "Ackerbuch der Gemeinde Nauheim" das Jahr 1688 angegeben. Das Anwesen grenzt an den Dorfgraben und den Schwarzbach, und hat als Nachbarn 1688 Georg und Philipp Diehl.

Aus den Zeiten vor 1688 gibt es keinerlei Hinweise auf die Hofreitsfläche, erst recht nicht auf Gebäude. Vor dem 30jährigen Krieg war die gesamte Fläche, die später die Hofreiten 31, 34 bis 38 und 60 einnehmen sollten, hausfreies Dorfgelände und als Grabgärten oder Weideland genutzt. Es lag weitestgehend innerhalb des bis spätestens 1720 verschwundenen Dorfgrabens. Nur nahe bei der Dorfpforte nach Groß-Gerau (in der Vorderstrasse) stand ein kleines Hirtenhaus auf der späteren Hofreite 34 (Hintergasse 27). Die nordwestliche Grenze dieser unbebauten Fläche war der "Kirchpfad", der kürzeste Fußweg aus dem Dorf, über einen Schwarzbach-Steg zur Jakobskirche.

Nach den Pestjahren um 1635 lag die Nauheimer Mühle wohl recht reparaturbedürftig darnieder; von den Groß-Gerauer und Worfelder Gründern und Erbauern war nur eine 'Barbara' verblieben, mehr ist im Kirchenbuch nicht verzeichnet. Diese durch ihren Besitz vermögende ca. 25jährige Frau heiratet der Königstädter Michael Kaul 1642 und wird damit erster Nauheimer Müller nach dem 30jährigen Kriege. Michael Kaul zieht in der Mühle 12 Kinder groß.

Sein zweitältester Sohn Johannes heiratet 1669 die Zimmermannstochter Anna Maria Mischlich, die Schwester des Johannes Mischlich, der 1679 Michael Kaul die Mühle abkauft und Nauheims zweiter Müller wird. In diesen Jahren und vielleicht auch mit dem Geld aus dem Mühlenverkauf, hat Michael Kaul das gesamte Gelände der heutigen Hofreiten 34 bis 38 erworben, in fünf etwa gleichgroße Bauplätze aufgeteilt und an vier seiner Kinder übergeben. Sohn Johannes Kaul erhält den Bauplatz der heutigen Hofreite 37. Da Johannes Kaul 1669 als erster Sohn heiratete, kann man als sicher annehmen, dass der Vater der Braut, Hans Mischlich, auch der erbauende Zimmermann des zweistöckigen Fachwerkhauses war. Als Bauzeit für das Wohnhaus wird die Zeit zwischen 1669 und vor 1688 vermutet. Johannes Kaul starb schon 1689.

Das heutige Haus Hintergasse 21 ist noch das erste Wohnhaus auf der Hofreit 37, denn es gibt in allen zeitlich späteren Unterlagen keinen Hinweis auf einen Wohnhausbau oder -umbau mehr, denn in den Steuerlisten (um 1700 / 1720 begonnen) kehrt der Steuerwert in gleicher Höhe wieder. Denn daraus kann gefolgert werden, dass Haus 37 ein recht neues Gebäude war, das auch in den folgenden 50 Jahren an Wert, also auch Steuerwert, nichts einbüßte.

Aus der Familiengeschichte der Familie des Michael Kaul resultiert auch das Zufahrts-Gäßchen zu Haus 37, denn nur so waren etwa gleichgroße Hofreitflächen aus dem Gesamtareal einteilbar - zudem waren solche Zufahrts-Stichstraßen / Sackgassen sehr zeittypisch. Auch stand vermutlich Haus 36 vor Haus 37, da die Schwester von Johannes Kaul, die darin wohnte, schon 1663 heiratete und die Mühle damals nur sehr wenig Wohnraum bot.

Übrigens: Da das Gesamtgelände von der Hintergasse zum Schwarzbach abfiel, war als frühe gemeindliche "Bauauflage" zwischen Haus 37 (neben Wohnhaus) und Hofreit 38 ein Regenwasserablauf freizuhalten.

1689 stirbt der erste bekannte Hausherr von Haus 37. Sein Vater Michael lebt zu dieser Zeit noch. Dies ist vielleicht der Grund, weshalb Haus 37 in der zeitlich nächsten Quelle aus dem Nauheimer Archiv, dem Nauheimer Flurbuch I, als Besitz von Nicolaus Kaul, dem Bruder von Johannes Kaul genannt wird und nicht von Johannes' Witwe oder seinen drei Kindern, die übrigens alle in Nachbardörfer heiraten. Im Flurbuch I ist die Hofreit 37 um 1720 als Besitz von Bruder Nicolaus Kaul eingetragen mit: "Ein Wohnhauß. Ein Scheuer. Ein Schweinstall. Ein liegender Stall am Hauß. Ein Garten am Hof. Die Hofreit 27,23 Ruten." (27 Ruten = 562 qm) ("Ein liegender Stall" = einliegender Stall = an oder in damaliger Zeit üblicherweise ins Haus gebauter Stall, hier wohl ein niedriger Schweinekoben). Auch das "Geschoßbuch der Gemeinde Nauheim", begonnen um 1720, enthält genau diese Beschreibung der Hofreit 37, die damit ein vollwertiges, keinesfalls armes bäuerliches Anwesen geworden war.

Zu dieser Zeit war der Dorfgraben als Grundstücksgrenze bereits verschwunden (zugeschüttet) und die Hintergasse schon in etwa der heutigen Straßenführung entsprechend ausgebaut und vermutlich gepflastert: das "Neubaugebiet" war bereits fester Bestandteil des (alten) Dorfes geworden!

Der nächste Besitzer der Hofreite 37 ist ein gleichnamiger Sohn von Nicolaus Kaul, der mit seiner Ehefrau Anna Catharina Jüngling 16 Kinder zeugt.

Berichte über Neubautätigkeiten sind in den zeitlich folgenden, im Archiv erhaltenen Nachrichten zur Hofreit 37 nicht überliefert, Haus und Hof werden gepflegt und erhalten.

Nächster Eigner von Haus 37 wird der jüngste Spross jener kinderreichen Familie, ein Georg Kaul, von Beruf Webermeister und Landwirt, der erst mit fast 40 Jahren 1782 eine recht nahe 19jährige Verwandte namens Barbara Elisabetha Kaul heiratet. Als er schon 1798 stirbt, heiratet 1799 seine junge Witwe den Jacob Storck aus WeidenthaI bei Neustadt an der Hardt, auch einen Webermeister. (Die Weberei wird in der Familie spätestens in der folgenden Generation zugunsten der Landwirtschaft aufgegeben.)

Jacob Storck bzw. seine Kinder und Kindeskinder bleiben auf der Hofreite bis zum Verkauf an die heutigen Besitzer vor wenigen Jahren. Nach gut 100 Jahren Familie Kaul war das Anwesen rund 200 Jahre im Besitz der Familie Storck. 1999 erwirbt Uwe Hurlin aus Rüsselsheim das Anwesen und lässt es von Grund auf für Wohnzwecke restaurieren.

Am Grenzverlauf und der Hofreits-Fläche gab es bei der Hofreite nur ganz geringfügige Korrekturen. Um 1800 wurde ein eigener Brunnen gebaut, offenbar wurde der lange Weg zum einzigen Dorfbrunnen vor dem Rathaus zu mühsam. Wann die Seitengebäude auf der Südseite des Hofes errichtet wurden, konnte nicht ergründet werden, ist auch bei der Familie Storck nicht mehr bekannt. Aber die alte Fachwerk-Scheune wurde 1914 durch eine Backstein-Scheune, zum Teil auf den Grundmauern der alten, ersetzt.

1997 erwarb dann Uwe Hurlin aus Rüsselsheim die Hofreite und versetzte sie in den heutigen Zustand. Der bauausführende Architekt, Herr Uttenweiler aus  Flörsheim, leitete die umfangreiche und gelungene Renovierung der ca. 1600 m² großen Hofreite, die bis ins Jahr 2002 dauerte.

Gekürzte Fassung. Verfasser: Harald Hock, Erwin Kaul, Richard Kaul (Stand 9.2003)

 

Innenansicht Anwesen Hintergasse 21
Innenansicht Hintergasse 21

Blick vom Schwarzbach
Aussehen der ehemaligen Scheune

 

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