Nauheim - im historischen Rückblick
Die regsame Gemeinde Nauheim - zwischen den alten Zentren Rüsselsheim, Groß-Gerau und Trebur gelegen und nach starkem Zuwachs in der jüngeren Vergangenheit etwa 10.600 Einwohner groß - hat die Bedrohung ihrer Eigenständigkeit erfolgreich überstanden; die Selbstbehauptung war der Preis dafür, daß man nach dem 2. Weltkrieg in dem schon vorher längst nicht mehr ausschließlich landwirtschaftlich bestimmten Dorf, das mehr und mehr auch Arbeiterwohngemeinde im Einzugsbereich der umliegenden Großbetriebe (Opel, Flughafen usw.) geworden war, auf Wachstum setzte und mit seinen Pfunden wucherte. Durch die Eingliederung von sudetendeutschen Musikinstrumentenbauern erwuchs ein neuer, zu Weltgeltung gelangter Wirtschaftszweig; die günstige Verkehrslage zwischen Mainz, Darmstadt und Frankfurt an Hauptstraße, Eisenbahn und schließlich auch Autobahn führte zur Ansiedlung weiterer Gewerbebetriebe, und durch die Erschließung attraktiver Wohnlagen und des Erholungsgebiets am Hegbachsee in der unmittelbaren Nähe der großen Waldungen im Norden und Nordosten wurde die Struktur des Orts erneut verändert. Die langgestreckte Gestalt des heutigen Nauheim, in dem der dörfliche Ortskern im Südosten (um die evangelische Kirche, das alte Rathaus und die inzwischen eindrucksvoll renovierte Mühle am Schwarzbach) noch weit mehr als schon vor dem Krieg an den Rand gerückt erscheint, stellt das Ergebnis der eindeutig wachstumsorientierten Entwicklung dar. Erst in jüngster Zeit hat man sich vor Ort mehr darauf besonnen, welche Gefühlswerte und Erkenntnismöglichkeiten jenes fachwerkreiche altfränkische Alt-Nauheim doch noch birgt, das uns, nicht zuletzt durch die Gunst der etwas abseitigen Lage des Ortskerns weithin erhalten geblieben ist.Altnauheim um 1790
Noch immer liegt Nauheim so wie in den Anfängen am Saum der großen Forste, die seit dem Frühmittelalter im königlich-kaiserlichen Wildbannbezirk "Dreieich" zusammengefaßt waren und immer noch breitet sich vor Nauheim nach Süden hin die offene Kulturlandschaft des nördlichen Rieds, in das hinein der Ortsbach, der Schwarzbach, in Richtung der Nachbargemeinde Trebur entwässert. Auf diesen einstigen königlichen Verwaltungsmittelpunkt und zeitweiligen Ort einer wichtigen Kaiserpfalz hin erscheint Nauheim sozusagen natürlicherweise zuerst orientiert, wie auch noch der Verlauf der Hauptverkehrsführung im Ortsbereich (Königstädter Straße, Bahnhofstraße) indirekt zeigt; sie folgt in etwa einem wohl schon im 6. Jahrhundert angelegten Fernverkehrsweg, der von linksrheinischen Zentren des damaligen Frankenreichs, Reims, Metz und Worms, aus über die einstige Rheinfurt bei Nackenheim und Trebur -zwischen Königstädten und dem Mönchhof als ,,Stockstraße" bekannt - nach Nordosten in die Wetterau und darüber hinaus strebte. Entsprechend erwies das fränkische und deutsche König- und Kaisertum früh ein besonderes Interesse an den Bereichen entlang dieser alten Straße, etwa an Trebur und eben auch an Nauheim. Gleich die Erstnennung bezeugt Nauheim als Königsgut (zusammen u. a. mit Trebur und Mörfelden, mit denen als Ausdruck engster einstiger Zusammengehörigkeit Nauheim bis 1732 einen gemeinsamen Wald besaß): Der durchsichtige Name Nauheims wird zuerst als "Niuuenheim" (= Neuenheim) im sog. Lorscher Reichsurbar überliefert, einer Auflistung von fränkischem Reichs- bzw. Königsgut, das gewöhnlich bald nach 834 abgefaßt gedacht wird, aber wohl schon aus dem Jahr 764 stammt. Was Wunder, daß die spätmittelalterliche Ortsherrschaft, etwa der Grafen von Isenburg-Büdingen, aus ererbten Rechten über ursprünglichen Königsbesitz herrührt.
Der Name der alten Siedlung "Niuuenheim" läßt allerdings u. a. auch darauf schließen, daß es in der Nähe ein noch älteres, von den Bewohnern aufgegebenes "Heim" gegeben hat, von dem aus, als das "neue Heim", eben Nauheim gegründet sein könnte. Die Nauheimer Flur "Auf dem Stockheim", in der südlichen Nachbarschaft des heutigen Ortskerns auf einer wohl stets hochwassergefährdeten "Insel" gelegen, mag auf jenen vermutbaren älteren, früh aufgegebenen Ort verweisen.
Jakobskapelle - erbaut um 1300
Wahrscheinlich aber befand sich im Mittelalter noch ein wichtigeres, inzwischen ebenfalls längst wüst gewordenes Dorf in der heutigen Nauheimer Gemarkung, und zwar unfern von "Alt-Nauheim", aber westlich des Schwarzbachs im Bereich des Bahnübergangs an der Durchgangsstraße im Umfeld der 1783 abgerissenen alten Nauheimer Kirche St. Jakob mit ihrem uralten Friedhof auf dem hochinteressanten "Totenhügel". Es erscheint naheliegend, hier, an der alten Straße und Kirche, ein frühes Dorf anzusetzen, dessen Bewohner dann aIlerdings nach einer Brandkatastrophe die Wohnstätte aufgegeben haben und von der Straße weg nach dem nahen, aber offenbar weniger exponierten, abseitigeren "Nauheim" über den Bach gezogen sein dürften. Erst lange nachher gab man, des langen Wegs zu der an der alten Stelle verbliebenen Pfarrkirche müde, auch das mittelalterliche Gotteshaus auf und errichtete 1753 die heutige evangelische Kirche im Dorf, nach den Entwürfen des Darmstädter Superintendenten J. K. Lichtenberg, dem auch eine ganze Anzahl benachbarter evangelischer Kirchenbauten (in Raunheim, Bischofsheim, Ginsheim usw.) zu verdanken ist. Seine Tätigkeit symbolisiert den bis heute bestimmenden Einbezug Nauheims in den politischen Raum Hessen(-Darmstadt), dem der Ort - vorher noch unter isenburgischer Herrschaft reformiert - erst 1600 durch Kauf zugekommen ist.
Bis zur Ansiedlung der Heimatvertriebenen ist Nauheim eine weit überwiegend protestantische Gemeinde geblieben; die 1959 dann im Neubaugebiet erbaute katholische Kirche St. Jakob aber greift mit ihrem Patron erinnernd auf jenes verschwundene mittelalterliche Gotteshaus zurück, um das wir das ursprünglich wichtigste der drei Siedlungszentren annehmen müssen, die in der erkennbaren Geschichte Nauheims eine Rolle spielten - an seiner Stelle etwa, an der alten Durchgangsstraße, erwuchs, nach einer Phase der bäuerlichen Zurückgezogenheit hinter dem Bach, gewissermaßen mit Notwendigkeit im 19. und 20. Jahrhundert wieder ein neues, nun nicht mehr bäuerliches Siedelzentrum, das des modernen Nauheim, und nicht zufällig finden sich eben dort auch Bahnhof und neues Rathaus! Ein Kreis hat sich geschlossen; in gewisser Weise hat Nauheim zu sich selbst gefunden.
ERNST ERICH METZNER